Samstag, 23. Oktober 2004
Nun sitze ich seit sechseinhalb Stunden im Flugzeug, 9500 Meter über dem Meeresspiegel und mit einer Geschwindigkeit von 950 km/h unterwegs. Ich habe nun Zeit, um auf die Ereignisse seit dem letzten Rundbrief zurückzublicken.
Dieser Flug in die Mongolei war der ereignisreichste, den ich bisher erlebt habe. Es war das herausforderndste Jahr, das wir in der Mongolei durchlebt haben. Wir haben neue Freunde gewonnen, aber auch einige verloren, da ihre Interessen nicht mit unserer Arbeit übereinstimmten. Besonders schmerzhaft war der Verlust von Sereeter und Njamaa.
Sereeter, der uns über viele Jahre hinweg sehr gut unterstützt hatte, suchte sich eine Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen, da er der Hauptversorger seines Familienclans war. Bei Njamaa, unserem mongolischen Baufachmann, nahm das alte Leben wieder überhand. Alkohol und mongolischer Stolz verhinderten, dass er sich wieder richtig in unsere Gemeinschaft einfügte. Nach fünf Jahren Zusammenarbeit hatten wir ihm eine leitende Position in unserem Team gegeben, doch seine Frau nutzte diese Position aus, um unsere Mitarbeiter unter Druck zu setzen. Zum Beispiel sagte sie oft: „Wenn ihr nicht das macht, was ich sage, schmeißt mein Mann euch raus“. Zusätzlich waren oft betrunkene Freunde von Njamaa auf unserem Grundstück unterwegs. Trotz dieser schwierigen Umstände haben wir versucht, bis zur Fertigstellung des Hauses weiterzumachen. Kurz bevor wir im August wieder nach Deutschland fuhren, entwickelte sich dann scheinbar doch wieder alles zum Guten. Doch als ich im Oktober zurückkam, stellte ich fest, dass an der Baustelle kaum Fortschritte erzielt worden waren. Daraufhin trennte ich mich innerhalb von drei Tagen von ihm.
Meine erste Aufgabe war es, Arbeiter zu organisieren, um unsere Häuser winterfest zu machen, da der Winter schon in drei Wochen beginnen würde und die Nächte mit -15°C sehr kalt werden würden. Njamaa hatte zudem den Schornstein des Kinderhauses abgerissen, ohne ihn wieder aufzubauen.
Parallel dazu begannen wir, unsere Arbeit in der Mongolei grundlegend umzustellen. In den letzten Monaten haben wir viel darüber nachgedacht, wie wir unsere Arbeit in die richtige Richtung lenken können, da wir immer mehr in das Fahrwasser eines mongolischen Waisenhauses abrutschten, bei dem es den Mitarbeitern nur ums Geld ging und nicht um das Wohl der Kinder. Dies stand im Widerspruch zu unserer Vision, dass die Kinder in mongolischen Familien aufwachsen sollten. Doch aufgrund staatlicher Vorschriften und fehlender Mitarbeit von Familienmitgliedern war diese Vision bisher nicht umsetzbar.
Trotz dieser schwierigen Umstände haben sich unsere Kinder sehr gut entwickelt. Die traurigen Gesichter und die Geschwüre, die sie aus dem staatlichen Waisenhaus mitgebracht hatten, verschwanden schnell. Die Kinder sind jetzt fröhlich und gesund, was uns sehr ermutigt hat, weiterzumachen.
Obwohl mein Flug nach Ulaanbaatar chaotisch verlief und ich zwei Tage später als geplant ankam, waren die verbleibenden 19 Tage in der Mongolei intensiv und segensreich. Mein Hauptanliegen war es, zwei Familien für unsere Kinder zu finden. Die erste Familie, die wir fanden, war Dawaajo und seine Frau Bajrmaa, die vor einigen Monaten gesagt hatten, dass sie gerne Kinder von uns aufnehmen würden. Die zweite Familie fanden wir durch Zufall. Tuuja, unsere Übersetzerin, erzählte ihren Eltern von unserer Suche und sie boten spontan an, Kinder aufzunehmen. Trotz einiger Zweifel bei Tuuja, ob ihre Eltern zu alt seien, war ich überzeugt, dass sie genau die richtigen Eltern für unsere Kinder waren.
Dawaajo, Bajrmaa und ich besuchten die Familie und waren sehr positiv überrascht. Die Wohnung war sauber und ordentlich, auch wenn sie im Gerviertel ohne fließendes Wasser lebten. Der Vater, ein ehemaliger Leiter eines großen Lebensmittelkonzerns, hatte eine fröhliche Art und eine gute Ausstrahlung. Die Familie übernahm zudem die bürokratischen Aufgaben, die zuvor von Sereeter erledigt wurden.
Seit dem 20. Oktober leben nun sechs Kinder bei Mikhlai und Tseegi und vier bei Dawaajo und Bajrmaa. Die Kinder fühlen sich in ihren neuen Familien sehr wohl, und der Alltag sieht nun folgendermaßen aus:
- 08:00 Uhr: Frühstück in den Familien
- 09:00-12:00 Uhr: Alle Kinder sind zusammen im Kinderhaus
- 12:00 Uhr: Gemeinsames Mittagessen
- 12:30-15:00 Uhr: Mittagsschlaf oder Spielen in den Familien
- 15:00-18:00 Uhr: Alle Kinder sind zusammen im Kinderhaus
- 18:00 Uhr: Abendessen in den Familien
- Je nach Jahreszeit gehen die Kinder zwischen 20:00 und 21:00 Uhr ins Bett
Im Januar 2005 werde ich unsere neue Familienstruktur den mongolischen Behörden vorstellen und hoffe auf deren Zustimmung.
Nun noch ein paar Worte zu Mirko und Inche:
Mirko hat im September mit seinem Fachabitur begonnen. Er absolviert nun ein Praktikum mit einem Förster vom Forstamt Attendorn und geht zwei Tage in der Woche zur Schule. Der Führerschein, den er in der Mongolei gemacht hat, muss hier in Deutschland noch anerkannt werden. Bis jetzt gefällt es ihm sehr gut.
Inche entwickelt sich weiterhin sehr gut und hat sich immer besser an die Kulturunterschiede angepasst. Leider wurde ihr ein mündlich zugesagter Kindergartenplatz kurzfristig gestrichen, sodass wir uns erst nach unserer Rückkehr nach Deutschland um einen Platz kümmern konnten. Sie steht jetzt auf einer Warteliste.
Wir wünschen euch allen eine schöne Adventszeit, ein fröhliches Weihnachtsfest und ein gesegnetes neues Jahr.
Liebe Grüße,
Horst und Kalla